Erster Weltkrieg - Heimatfront Neubrandenburg
Freitag 31. Juli 1914: „Drohender Kriegszustand“ über Deutschland
Der Juli 1914 soll ein besonders heißer Sommer gewesen sein. Er brachte an der Ostseeküste in diesem Jahr den ersehnten Hochbetrieb im Tourismus und Fremdenverkehr. Und wer sich die Sommerfrische nicht leisten konnte, schwitzte im beliebten Augusta-Bad oder im separierten Damen- und Herrenbad. Und das trotz des Schicksaltages vom 28. Juni, dem Attentat von Sarajewo auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger und seiner Gattin. Ganz Europa erstarrte vor Schreck, doch zog für die meisten Menschen bald wieder der Alltag ein. So reiste man am liebsten als Sommerfrischler an die Ostsee, wo sich in den Badelisten sogar eine bessere Tendenz als in den beiden Vorjahren abzeichnete, bis zum 18. Juli 1914: Ostseebad Swinemünde zählte fast 20000 Sommerfrischler vom Beginn der Saison an. Die Bahn verkaufte in Berlin auf dem Stettiner Bahnhof vom 2. bis 7. Juli 123500 Fahrkarten zu den Bädern nach Rügen und Usedom und aus Neubrandenburg fuhr man mit der Berliner Nordbahn direkt bis nach Stralsund und weiter auf die Insel Rügen. Es war eben Sommerzeit und damit Ferien- und Badesaison, die Bade- und Bewegungskultur an der offenen See war groß in Mode gekommen. Für die Schulkinder in Neubrandenburg begann Mitte Juli die Ferienzeit, erst am 18. August sollten sie wieder die Schulbank drücken. Auch die Spitzen der deutschen Reichsregierung machten Urlaub, Gelassenheit demonstrierend.
Und dann nahm der Alltag eine radikale Wendung, denn am 28. Juli 1914 erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg. Von nun an gab es im „Allgemeine(n) Mecklenburger Anzeiger - Neubrandenburger Zeitung“ täglich eine Hiobsbotschaft nach der anderen.
Aus dem Augusta-Bad fuhren die Berliner Ferienkinder ab, die besorgten Berliner Eltern hatten sie telegraphisch zurückgerufen. Am Neubrandenburger Bahnhof trafen österreich-ungarische Staatsbürger zusammen, meist Galizier, die in der Region wie alljährlich seit Frühjahr auf den umliegenden Gütern als Schnitter arbeiteten. Nun reisten sie heim, um ihrer Wehrpflicht nachzukommen.
Drei Tage später, am 31. Juli um 12 Uhr mittags, fiel in Berlin die folgenschwere politische Entscheidung. Kaiser Friedrich Wilhelm II. rief den „drohenden Kriegszustand“ über Deutschland aus, außer über Bayern, das tat der König von Bayern. Durch diese militärische Maßnahme ging die vollziehende Staatsgewalt, auch die des Bürgermeisters von Neubrandenburg, auf den kommandierenden General der 9. Armeekorps zu Altona über und das gesamte Kaiserreich war in militärische Alarmbereitschaft versetzt worden. Die Meldung vom Kriegszustand wurde von Berlin aus in alle Orte des Kaiserreichs telegrafiert und öffentlich bekannt gegeben. Der „drohende Kriegszustand“ verlangte die sofortige Grenzsicherung im Westen und Osten, des Weiteren überall den Schutz der Eisenbahnen, Schifffahrtswege und Häfen usw. für den bevorstehenden Aufmarsch und eine absolute Nachrichtensperre über militärische Tatbestände. So wurden noch am selben Abend die Eisenbahnbrücken in Neubrandenburg und Neustrelitz von „mit Schusswaffen ausgerüsteten Eisenbahnbediensteten bewacht“.
Nach 14 Uhr ging die eilige „elektrische Drahtmeldung“ auch auf dem Kaiserlichen Postamt in Neubrandenburg ein. In Berlin hielt um 16.30 Uhr vom Balkon des Stadt-Schlosses der Kaiser eine patriotische Ansprache an das versammelte Volk. Und die Menschen, wie reagierten sie in Neubrandenburg auf diese ungeheure Nachricht. Aus zeitgenössischen Nachrichten wissen wir, die Euphorie und der Patriotismus waren groß, eine Welle der Sympathiebekundungen erfasste die Menschen. Es soll auf dem Marktplatz z. B. zu spontanen Menschen-Ansammlungen gekommen sein, ähnliche Szenen gab es auch in den Gasthäusern: Die alles entscheidende Frage für jeden war: Gibt es Krieg?
Seit 1870/71 hatte Frieden in Mecklenburg geherrscht und nur noch die ältesten Bewohner konnten sich an Kriegsrecht und Kriegszustand usw. erinnern. Auf einmal wurden die Leute sehr geschäftig, jetzt war alles anders, denn die ungeheure Anspannung, die seit einigen Tagen die Menschen im Bann gehalten hatte, war jäh gebrochen.
Mobilmachungsbefehl
Am Sonnabend, den 1. August, ließ der Kaiser um 17.15 Uhr die allgemeine Mobilmachung des deutschen Heeres und der Flotte anordnen. Im Nachhinein wurde vermutet, dass zwischen diesem 31. Juli und 1. August der Krieg noch hätte verhindert werden können, doch ein deutsches Ultimatum an Russland wurde von Zar Nikolai nicht mehr beantwortet. Im Gegenteil Russland erklärte Deutschland den Krieg. So verlief das politische Szenario, die Weltlage hatte sich schlagartig geändert, aber in welche Richtung würde es nun weiter gehen?
Auf allen Telegrafenstationen ging am 1. August 1914 gegen 18.30 Uhr von Berlin der Mobilmachungsbefehl ein, mit dem Text: „Mobilmachung befohlen, erster Mobilmachungstag der 2. August. Dieser Befehl ist sofort ortsüblich bekannt zu machen. Reichs-Postamt.“
An diesem Sonnabend waren die Straßen und Plätze in Neubrandenburg wie die Tage zuvor von aufgeregten Passanten gefüllt. Oder waren sie noch belebter? Überall standen die Leute, Männer und Frauen in Gruppen beieinander und heftig miteinander diskutierend. Den ganzen Tag warteten alle auf die letzte Entscheidung, wird es Krieg geben oder nicht, wird die Mobilmachung ausgerufen. Menschenansammlungen bildeten sich vor dem Rathaus, dem Postamt und vor der Zeitungsredaktion. Denn die schnellsten Informationen von auswärts kamen nur durch Telegrafie, Telefon und den Zeitungen. So warteten die Leute begierig auf die aktuellsten Depeschen. Redakteure saßen an den neuesten Drahtmeldungen, um sie in Worte zu fassen. In diesen heißen Tagen mussten die Anschläge für die Öffentlichkeit bis mindestens 22 Uhr im Schaufenster der Verlagshäuser bekannt gemacht werden.
Die Nachricht von der Mobilmachung erreichte Neubrandenburg noch vor 19 Uhr, jetzt gab es für Jung und Alt kein halten mehr. „Vom Rathausfenster aus hielt Herr Rat Brückner eine begeisternde Rede. Musik und patriotische Lieder ertönten.“ Eine Gruppe von Menschen marschierte zum Kriegerdenkmal am Bahnhof.
Kurzerhand hieß es für die ersten Neubrandenburger Einberufenen Abschied nehmen von Frau und Kindern, von Eltern und Freunden. Sie hatten sich z. B. schnellstens einzufinden beim Garnisonskommando zu Neustrelitz, bei der Infanterie oder Kavallerie. Und bei allen öffentlichen patriotischen Kundgebungen, was für traurige Szenen müssen sich im Privaten abgespielt haben und haben sie wirklich geglaubt, Weihnachten zu Hause zu sein?
Auch der Straßenverkehr war unerträglich dicht, auf den Durchgangsstraßen Richtung Berlin oder Rostock fuhr ein Automobil nach dem Anderen. Solch lauten und dichten Verkehr hatten die etwa 11000 Einwohner der Stadt wohl selten erlebt. Die hastig eilenden und meist stillen Menschen, ob Urlauber, Geschäftsreisende oder Händler, sie hatten nur ein Ziel, sie wollten schnellstens nach Hause. Einige Männer mit Gestellungsbefehl in der Tasche wurden von den Angehörigen zu den Garnisonen begleitet.
Das Kaiserreich hatte einige Erleichterungen für freiwillige Kriegsteilnehmer per Gesetz vorbereitet, um schnell in den Krieg zu kommen. Z. B. stand reiferen Gymnasiasten das Notabitur (Abschluss 11. Klasse) zu, damit sie mit 17 Jahren als Freiwillige nach kurzer militärischer Ausbildung an die Front konnten. Darunter wurden bekannt: Oberprimaner Walter Schneider, Hans Bielefeld, Paul Wittenburg, Albert Raspe, Karl Otto Dubbert und Hans Jäger. Sie gehörten zu den ersten sehr jungen Männern, die bereits um den 10. August ein Notabitur erhielten.
Eigens für „Heldentaten“ erneuerte am 12. August der Großherzog das Mecklenburg-Strelitzsche Kreuz, das sein Großvater vor ihm für die 1871 Kriegs-Helden gestiftet hatte, um Tags darauf selbst ins Feld zu ziehen. Männer aller Stände und Schichten gingen in die Schlachten und keiner konnte sich der tödlichen Gefahren entziehen.
Nach einer Woche Krieg ließ der erste Neubrandenburger während der Kämpfe in Belgien sein Leben mit nur 19 Jahren: Leutnant Theodor Wegner, Sohn des früheren Besitzers von Monkeshof. Das Heldenkreuz wurde ihm posthum zu Teil und den Anverwandten in der Heimat zugeschickt.
Angst um das liebe Geld
Der Kriegsausbruch schürte bei den Menschen soziale Ängste und Unsicherheiten. Kontoinhaber von Sparbüchern auf der Sparkasse Neubrandenburg trauten der Sicherheit ihrer Einlagen nicht mehr und holten ihr Geld zurück. Solche Geldabhebungen über größere Summen waren in jenen Jahren allerdings nicht neu.
Mit Kriegsbeginn schmälerten auch die vielen Kleinsparer ihr Guthaben. Die meisten in den Krieg ziehenden Soldaten dachten, der Krieg wäre zeitlich begrenzt und sie hofften auf eine baldige Rückkehr aus dem Schlachtfeld. Nicht wenige Soldaten glaubten gar, Weihnachten werde man wieder daheim sein. Mit dem Gestellungsbefehl in der Hand rannten Männer und Väter noch schnell auf die Sparkasse, um für ihre Abwesenheit zusätzlich bares Geld für Frau und Kinder abzuheben. Sie wollten ihre Familie gut versorgt wissen. Wieder ein Irrtum, der Krieg dauerte viel, viel länger und von Beginn an musste die gesetzliche staatliche Familienunterstützung für die Soldatenfamilien sorgen und die Kommunen halfen mit finanziellen Zuschüssen und grundlegender Naturalienverteilung die größte Not zu lindern.
Um die Geldflucht zu stoppen, versuchten Sparkassenvorstand und Magistrat mit aufklärenden und beschwichtigenden Aufrufen in den Zeitungsblättern den Leuten die Angst vor finanziellen Verlusten zunehmen. Die Sparkasse war als Kommunalkasse (Stadtsparkasse) gegründet worden und mit Beginn ihres Bestehens bürgten die Immobilien der Kämmerei, die Häuser, Grundstücke und der Landbesitz, für die eingelegten Spargelder. Bald zeigten die öffentlichen Argumente auch Erfolg und die Leute zahlten ihre Gelder wieder ein und deponierten es in ihrem Geldinstitut.
Doch das Misstrauen blieb, aus Angst vor der Inflation traute man auch den Reichsbanknoten und Dahrlehnskassenscheinen aus Papier nicht mehr. Allen voran gingen Kaufleute, die vom Kunden nur Hartgeld annehmen wollten und dazu noch die Preise hochtrieben. Denn die Leute bevorrateten sich, insbesondere mit Mehl, Zucker und Kartoffeln, es gab regelrechte Hamsterkäufe. Und wieder wurde in den Zeitungen Aufklärungsarbeit geleistet.
Einer der ersten Korpsbefehle des stellvertretenden kommandierenden Armeegenerals aus Altona vom 5. August hieß deshalb: „Binnen Kurzem wird die Festsetzung von Höchstpreisen, auf Grund des Reichsgesetzes gegen die ungerechtfertigte Verteuerung von Lebensmittel, erfolgen.“ Ein Pfund Butter durfte dann maximal 1,40 Mark kosten.
Ja, die Münzen waren sehr begehrt. Das damalige Hartgeld, die Münzen zu 2, 3 und 5 Mark, enthielten einen Edelmetallgehalt an Silber oder Gold, womit die Leute alle Krisen und Währungen zu überdauern glaubten. Allgemein stand der Nennwert von einer Mark für einen Feingehalt von fünf Gramm Silber. Eine fünf Mark Silbermünze enthielt also 25 g Silber. Mit Münzen wusste man also, welcher Wert im Sparstrumpf lag.
Klar, man musste in diesen Zeiten erst recht zu seinem Geld kommen. Das Neubrandenburger Handwerk und der Handel verweigerten schon in der ersten Kriegswoche die Ausstellung von Rechnungen, sie verlangten für ihre Leistungen und den Verkauf von Waren konsequent Barzahlung an Ort und Stelle. Mit dieser Maßnahme hatten sie allerdings Rückendeckung von der Handwerkskammer in Schwerin. Ja, die Unsicherheit um das Geld unter den Neubrandenburgern war groß. Und noch größer wurde die Unruhe in der Stadt durch recht abenteuerliche Meldungen und Gerüchte: „Nach zuverlässigen Meldungen bereisen russische Offiziere und Agenten in großer Anzahl unser Land. Die Sicherheit des Deutschen Reiches fordert, dass aus patriotischem Pflichtgefühl heraus neben den amtlichen Organen das gesamte Volk, unbedingt dazu mitwirkt, solche gefährliche Personen unschädlich zu machen. Durch rege Aufmerksamkeit kann jeder an seiner Stelle zum glücklichen Ausgang des Krieges beitragen.“ Die Leute hatten große Sorge ihr Hab und Gut zu verlieren.
Pferde für den Krieg
„Der Graf lächelte und klopfte seines Lieblingspferdes Halses? Es gibt Krieg, Wilhelm, und dann müssen alle unsere Pferde mit und wir auch, alter Junge. Mit Gott für König und Vaterland. Er wandte sich kurz um und ließ den entsetzten Wilhelm stehen.“
(Margarethe von Oertzen: „Ein überwundener Held“ 1916.)
Im 1. Weltkrieg sollte die deutsche Kavallerie mit ihren Dragonern, Musketieren, Ulanen, Jägern zu Pferden oder Kürassieren in den Kampfhandlungen, zu mindestens anfangs, eine wichtige strategische Rolle spielen. Schon Sommer 1913 bewilligte der Reichstag nicht nur die Erweiterung der Mannschaften und Waffen, sondern auch die Aufstockung des Tiermaterials, geplant waren zusätzlich 7 neue Kavallerieregimenter mit Soldaten, Pferden und Wagen.
In den unzähligen blutigen Gefechten und auf Patrouillenritten starben viele Pferde und schwer verletzten Tieren musste der Gnadenschuss gegeben werden. In Feldpostbriefen an die Heimat hieß es nicht selten: „Mutter ich hab mein Pferd, einen treuen Kameraden, verloren, Gott sei Dank, ich bin wohl auf.“ Am Ende war der Blutzoll für die Pferde immens: Allein auf deutscher Seite wurde ein Verlust von etwa einer Million Rösser geschätzt.
Traditionell wurden Militärpferde auf Landesgestüten gezüchtet und zusätzlich von privaten Besitzern als Remonten aufgekauft und dann in militärischen Einrichtungen, den Remontedepots, ausgebildet. Die Anzahl der Remonten reichte aber für einen großen Krieg nicht aus, die große Tierreserve aus dem Lande musste einbezogen werden. Schon seit 1900 wurden in Mecklenburg-Strelitz über den privaten Pferdebestand der Bauern, Ackerbürger, Rittergüter, Bierbrauereien, Fuhrunternehmen oder Droschkenkutscher militärische Pferde-Musterungen durchgeführt, damit jährlich die vorhandene Anzahl militärdiensttauglicher Tiere erfasst werden konnte.
Von den gemusterten Zug- und Reitpferden nach Waffengattungen, erfolgte 1913 und im ersten Halbjahr 1914 hauptsächlich im Norden und im Osten Deutschlands der Pferdeaufkauf für das Heer. In Neubrandenburg fanden vor dem Krieg zentral für das Großherzogtum Mecklenburg-Strelitz am 13. August und am 3. November 1913 große Pferdeaufkäufe statt. Das Militär erwarb die gemusterten Pferde im Preis zwischen 1100 und 1300 Mark pro Tier. Reitpferde verstärkten das Pferdematerial der beiden Kavallerieregimenter in Neustrelitz, Zugpferde gingen an Garnisonen nach Güstrow (Artillerie) oder Rostock (Infanterie).
Im Krieg trat in der ersten Mobilmachungswoche anstelle des freiwilligen Verkaufs die Zwangsaushebung der Pferde, am 3. und 4. August 1914 wurden in Neubrandenburg die Pferde beinahe so rekrutiert wie die Soldaten. Für jedes ausgehobene Pferd erhielt der Besitzer eine Bescheinigung, worauf er später den Pferdepreis in bar ausgezahlt erhielt. Doch die finanzielle Abfindung ersetzte beispielsweise den Brauereien und Fuhrunternehmen aller Art, selbst den Droschkenbesitzern in Neubrandenburg und erst recht nicht den Bauern auf dem Lande den Verlust an landwirtschaftlicher Arbeitskraft. Was tun ohne Arbeitspferde, die Lösung lag wohl auf der Hand, wie in alten Zeiten mussten dann Kühe und Ochsen daheim die Pflug- und Gespannarbeiten übernehmen. Das wurde von Kriegsjahr zu Kriegsjahr immer mühseliger und ebenso hörten die Klagen darüber nicht auf.
Gleichwohl waren sich Militär und Regierung der schwierigen Problemlage für die Bauern bewusst und versuchten die Anzahl an Pferdeaushebungen einzugrenzen und auch sonst, wenn es irgend möglich war, Abhilfe zu schaffen. So kamen bald Beutepferde aus Belgien und Frankreich zur Versteigerung nach Neubrandenburg, aber das war nur der Anfang vom bitteren Ende. Der Krieg wirtschaftete in den folgenden Jahren alles in Grund und Boden, auch die Pferde.
Selbst die Marstallpferde des Großherzogs wurden im Frühjahr 1917 an die umliegenden Landwirtschaften ausgeliehen, die Not an Arbeitskräften jeglicher Art war einfach zu groß.
Zivilgefangene
Mit Kriegsbeginn waren die deutschen Grenzen in Ost- und West geschlossen. Ausländern gelang es kaum noch auf legalem Weg Deutschland zu verlassen. Sie wurden festgesetzt an Ort und Stelle und viele von ihnen zu Zivilgefangenen gemacht. In unserer Region betraf das vor allem Russen: als Reisende, von Schiffsbesatzungen, die Badegäste und Gastarbeiter usw. Von diesen Leuten wurden arbeitsfähige Kräfte ausgesucht und interniert. Ein anderer Teil wurde über Saßnitz nach Schweden nach Russland abgeschoben. Für die festgehaltenen Russen entstanden zunächst in Altdamm bei Stettin und Ruhleben bei Spandau die größten zivilen Internierungslager, aus denen auch die Landwirtschaft in Mecklenburg-Strelitz fehlende Arbeitskräfte erhielt. Die weitaus größere Anzahl der Zivilgefangenen rekrutierte sich aber aus den seit Frühjahr hier arbeitenden Schnittern, sie kamen aus Russland und Russisch-Polen. Die Zahl betrug Ende November 1914 beispielsweise für die benachbarte Provinz Pommern 36000 Personen beiderlei Geschlechts.
Damit versuchte man Arbeitskräfte für die Landwirtschaft oder für kriegswichtige Betriebe als Ersatz für die einheimischen Männer zu sichern. So lautete jedenfalls das deutsche Wirtschaftskonzept. Für die Zivilgefangenen russischen und russisch-polnischen Arbeiter bedeutete die Festsetzung auf deutschem Boden Zwangsarbeit. Jeweils nach Anforderung durch die Landwirtschaft, Handwerks- und Industriebetriebe oder durch Kommunen erhielten sie auf der Arbeitsstelle Beköstigung und eine geringe Entlohnung zum eigenen Lebensunterhalt und blieben unter strenger Bewachung. Ein kriegswichtiger Betrieb in Neubrandenburg war beispielsweise die Beustersche Lederfabrik, die anfangs mit zivilen Gefangenen und später mit Kriegsgefangenen russischen Soldaten den Betrieb aufrecht erhielt und erweiterte.
Für die Schnitter blieben die im Frühjahr und noch in der Friedenszeit abgeschlossenen Arbeitsverträgen erstmal bestehen. Aber ihre persönlichen Freiheiten wurden sofort reduziert, jeder Ortswechsel verboten und die freie Bahnfahrt versagt. Niemand sollte sich in Richtung Osten oder nach Schweden absetzen können.
Anfangs brachte das „Schnitterproblem“ große Unruhe in die Bevölkerung. Die Rede war von gewalttätigen Ausschreitungen auf Gütern, ja von Ziel gerichteten Brandstiftungen oder von Zusammenrottungen gegen die Einheimischen. Das flammte während der Kriegsjahre immer mal wieder auf und tatsächlich gab es kriminelle Vorfälle. Doch in der ersten Zeit klärten sich die Vorfälle als haltlose und übertriebene Gerüchte auf. Dennoch kam es zu rigorosen polizeilichen Verhaftungen, gerichtlichen Untersuchungen und strengen Verurteilungen. Aber die Gründe waren meist unerlaubtes Verlassen der Arbeitsstelle oder Diebstahl.
Die Staatsanwaltschaft Neustrelitz suchte Anfang 1915 steckbrieflich wegen Diebstahls zwei junge russisch-polnische Schnitterinnen (zuletzt auf Gut Wrechen bei Feldberg) und einen 18-jährigen jungen Mann (ebenfalls aus Russisch-Polen) vom Gut Boltenhof bei Fürstenberg. Auch wegen Diebstahls wurde eine Hofgängerin (zuletzt auf der Domäne Pragsdorf) gesucht, sie stammte aber nicht aus Feindesland. Und ein weiterer Fall: „Ihre Arbeitsstelle heimlich verlassen und flüchtig geworden ist die Schnitterin Franziska Wrosowska aus Derlaki in Russisch-Polen, 23 Jahre alt, welche zuletzt in Sponholz in Arbeit stand.“
Als 1914 der Herbst einzog, wurde in Berlin die Entscheidung über den Winterverbleib der ausländischen Schnitter getroffen und durch Korpsbefehl in russischer, polnischer und deutscher Sprache angeordnet: „Infolge des Krieges zwischen Deutschland und Russland dürfen die russischen Arbeiter ihre bisherigen Arbeitsstellen ohne behördliche Genehmigung nicht verlassen, sie müssen vielmehr auch nach Beendigung der in den Arbeitsverträgen vorgesehenen Arbeiten dort verbleiben. Wer gegen diesen Befehl verstößt, setzt sich schwerste militärische Bestrafung aus. Anstelle der bisherigen Verträge sind neue Verträge für den Winter und für das nächste Jahr (1915) abzuschließen.“ Damit war das Schicksal für die ausländischen Schnitter entschieden, die meisten von ihnen sahen ihre Heimat erst nach Kriegsende wieder.
Lazarett und Sanitätskolonne
Nach einem Monat Krieg hatten sich fast alle deutschen Städte auf die Aufnahme und Betreuung von Verwundeten eingerichtet. Die Kriegsnachrichten von den harten Kämpfen auf dem Schlachtfeld und von den Verwundungen der Soldaten erreichten die Heimat schnell. Mithilfe der Öffentlichkeit entstanden zügig die Verbands- und Krankenerfrischungsstellen auf den Bahnhöfen, die Vereinslazarette und Genesungsheime für Krieger. Dass es an der Front einheimische Verwundete und Verletzte gab, wusste man seit Mitte August aus den regelmäßig herausgegebenen Verlustlisten der Obersten Heeresleitung, die bezogen auf Stadt und Umgebung in der „Neubrandenburger Zeitung“ nachzulesen waren. Vermutlich nahmen die Ehefrauen, Mütter und Väter die Zeitung oft mit zitternden Händen zur Hand. Die Verlustliste war anfangs ausführlich und mit wichtigen Informationen zu den Kriegern aufgeführt, sie waren unterteilt: verwundet, vermisst, tot. Bei den Verwundungen wurden Ursache, Art und der Grad der Verletzung benannt.
Die Verlustlisten spielten wie die Auszeichnungslisten mit dem Eisernen Kreuz eine große Rolle in der Heimat, bei jeder sich bietenden Gelegenheit wurde der Taten der Soldaten gedacht und in jedem Gottesdienst wurde für sie gebetet. Mit jedem Kriegstag nahmen auch die Gefallenen zu. Am 17. Oktober 1914 sagte Pastor Clorius in seiner Predigt zum Erntedankfest in der St. Marienkirche: „Ich habe 30 Gefallene gezählt. Draußen haben wir etwa 1000 Krieger. Das wären dann 3 von Hundert. Verwundete haben wir natürlich mehr. Aber von den Leichtverwundeten, selbst von den Schwerverwundeten dürfen wir angesichtlich unseres vorzüglichen Sanitätskorps, hoffen, dass sie wieder genesen.“
Im Stadthaus II begann man unter Leitung des Neubrandenburger Zweigvereins vom Roten Kreuzes und des Frauenvereins mit der Einrichtung eines Lazaretts und bat die Einwohner um Möbelspenden. Später brauchte man insbesondere ausreichende Bettwäsche und Leibwäsche für die Krieger. Die Sanitätskolonne vom Roten Kreuz musste durch medizinisch ausgebildetes Personal erweitert werden, wozu nicht jeder, der sich meldete, auch genommen wurde. Anders war es in der freiwilligen Krankenpflege, die durch die Zweigvereine des Vaterländischen Frauenvereins organisiert wurde. Nach den öffentlichen Zeitungsaufrufen für das freiwillige Pflegeamt durch den hiesigen Frauenverein, meldeten sich viele junge Frauen aus gutbürgerlichem Hause. Sie wollten nützlich sein und ihren Anteil in den Kriegszeiten leisten, sie meldeten sich daher freiwillig zur Ausbildung im Sanitätsdienst als Helferinnen und Hilfsschwestern. Die Frauenvereine leisteten der militärischen Lazarettverwaltung eine unentbehrliche Hilfe und das mit Beginn des Krieges.
Am 22. Oktober 1914 bezogen die ersten 7 Verwundeten das hiesige Vereinslazarett. Sie kamen direkt von der Westfront aus einem Etappenlazarett und waren sozusagen schon auf dem Weg der Genesung. „In der Etappe“, das war die Station direkt vor der Kampffront, befand sich der Sitz des Stabes, die zentrale Poststelle, Feldbäckerei- und Feldküche, Versorgungslager, Lazarett mit Operationsraum usw.
1915 wurden in Neubrandenburg zwei weitere Lazarette, eines im Großherzoglichen Palais und das andere in der Auktionshalle des Landwirtschaftlichen Vereins eingerichtet. Man wollte vorausschauend vorbereitet sein für Verwundetentransporte, die hier zwischenzeitlich Halt machten. Von der Ostfront brachten Militärzüge die Verwundeten über Stettin, Pasewalk, Neubrandenburg, Güstrow, Schwerin bis nach Hamburg zu den jeweils vorgesehenen heimatlichen Lazaretten.
Häufig war die Sanitätskolonne zum Bahnhofsdienst im Einsatz verpflichtet, an ihrer Seite freiwillige Helferinnen, die die Soldaten in den Militärzügen mit Erfrischungen versorgten. „So fahren wir im Spätherbst 1915 in doppeltem Sinne auf höheren Befehl gen Osten.
In Teterow, Malchin, Stavenhagen, Neubrandenburg, sogar auf kleineren Haltestellen werden viele Liebesgaben gereicht, namentlich Butterbrote, Kaffee und Zigarren, eine besonders wertvolle Gabe in Neubrandenburg: Stroh als Ersatz für die fehlende Heizung … Das erste Abendbrot erhalten wir in Neubrandenburg, noch halb satt von den vielen Liebesbutterbröten. Trotzdem hat mancher über kalte Füße zu klagen, denn die Nacht wird kalt.“
Die Vorschriften für die freiwillige Pflege- und medizinische Betreuung für durchgehende Soldatenzüge wurden im Verlauf des Krieges streng überwacht.