Gesichter des Krieges


Freitag – 31. Juli Kriegszustand über das Kaiserreich

„Krieg! Krieg! Wie ein Lauffeuer ging es durchs Dorf. Nicht nur der Herr Graf, auch

der Briefträger, der Kaufmann, der mit seinem Planwagen durchs Dorf fuhr, der

Gendarm, der gerade auf Jagd nach einem langfingerigen Strolch war, sie alle sagten:

‘Krieg! Wir kriegen Krieg!’ Nach wenigen Tagen kam die Bestätigung. ‘Kinnings,

Kinnings, wo sall dat gahn,’ jammerten die alten Muddings. ‘Es braust ein Ruf wie

Donnerhall.’ ‘Deutschland, Deutschland über alles,’ so klang es aus jungen Kehlen

begeistert und begeisternd. Die jungen Burschen mußten sich sofort stellen, und bald

danach kam es auch an die Familienväter. ‘Ick will die Franzosen und Russen wohl

verwichsen,’ sagte Wilhelm und packte seine Sachen in einen gelben Pappkarton,

und als dann auch die Engländer sich noch auf die Seite der Feinde stellten, da wurde

er fuchswild.“

Am 25. Juli 1914 lehnte Serbien das österreichische Ultimatum ab, in Jena

versammelten sich Teile der akademischen Jugend abends zu spontanen

Kundgebungen pro Österreich. In München trafen sich gegen 21 Uhr große

Menschenmengen am Karlstor, am Hauptbahnhof und am Marienplatz, um

patriotisch der Donaumonarchie beizustehen. Auch in anderen Städten und Regionen

des Kaiserreichs, in denen Deutsche und Österreicher, Studien- oder Arbeitskollegen

(Wanderarbeiter), sozusagen Nachbarn geworden waren, spielten sich ähnliche

Szenen ab.

Am 28. Juli 1914 erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg, abends

versammelten sich in Jena die SPD-Anhänger zu einer Protestkundgebung gegen

den Krieg auf dem Marktplatz. Handgreifliche Auseinandersetzungen mit den

patriotisch gesinnten Studenten wurden durch Eingreifen der Polizei erfolgreich

verhindert.

An warnenden Stimmen vor einem Vielvölkerkrieg fehlte es auch in Pommern nicht,

insbesondere aus den Reihen SPD und der Gewerkschaften, bis zuletzt: 30. Juli 1914

Volksversammlung im Gewerkschaftshaus Stralsund mit fast 400 Teilnehmern, 322

Männer und 72 Frauen. Das Protokoll über die gehaltenen Reden und über die

angenommene Resolution schrieb ein Polizeibeamter der Stadt sorgfältig auf:

„Arbeitersekretär Decker sprach: Die Völker Europas stehen vor einem großen

Ereignis und zwar vor der Tatsache, dass vielleicht in wenigen Tagen - Wochen ein

europäischer Völkerkrieg entbrennt, wahrscheinlich ein Krieg wie ihn die

Weltgeschichte noch nicht zu verzeichnen hat. Veranlassung zu diesem Weltkrieg

gibt der augenblickliche Krieg zwischen Osterreich und Serbien (ausführliche

Analyse). Also Genossen und Genossinnen! An der Tatsache ist nichts mehr zu

ändern, Russland hat mobil gemacht und ich glaube annehmen zu dürfen, wenn es

bei uns in Deutschland auch noch nicht offiziell geschehen ist, so wird in aller Stille

um so fieberhafter gearbeitet. Und es gibt ja auch Personen in Deutschland, die da

meinen, das Deutschland ja viel zu lange ruhig gewesen ist, … Jungdeutschland,

Pfadfinder, alles ist in vollständiger Aufregung. In den Großstädten wird in den

Cafes mobil gemacht. In München ist es soweit gegangen, das man die Personen, die

nicht mit in das Geblär eingestimmt haben, nach allen Regeln der Kunst vermöbelt

hat. … Schon jetzt zeigt der Krieg, welche Begleiterscheinungen er im Gefolge hat;

unterm 29. Juli wird depeschiert, dass es unter den Wiener Marktbesuchern zu

Exzessen gekommen ist, die Polizei musste mit den Polizeisäbeln dazwischen gehen,

weil die Grünkramhändler Preise verlangten, die kein Mensch bezahlen konnte. Dies

nach dem 1. Mobilmachungstag! Nun denken sie sich, wenn der Europäische Krieg

entbrennt! Das Erste ist, dass die Industrie lahm gelegt ist. Die Männer werden ins

Feld geschickt und die Frau bleibt zu Hause. Unser guter Vater Staat gibt jeder

Person, deren Ernährer im Feld steht, Unterstützung und zwar jede Person 30 Pfg.

pro Tag. In Neukölln (Berlin) musste beim Sturm auf die Sparkassen die Hilfe der

Feuerwehr in Anspruch genommen werden.

Resolution: Die heute Abend im Gewerkschaftshaus tagende öffentliche politische

Volksversammlung protestiert auf das Entschiedenste gegen die Maßnahme der

österreichischen Regierung, die nach Auffassung der Versammlung nicht alles getan

hat, um den europäischen Frieden zu sichern. Es wäre Pflicht derselben gewesen, alle

Mittel zu erschöpfen, die eine friedliche Lösung der schwebenden Frage hätte

bringen können. Die Versammlung verlangt, dass deutscherseits kein Soldat dazu

verwendet wird, Österreich in seiner Eroberungspolitik zu unterstützen. Die

Versammlung ist nach wie vor der grundsätzlichen Auffassung, dass alle politischen

Streitfragen durch internationale Schiedsgerichte geregelt werden können. – Diese

Resolution fand einstimmige Annahme und mir einem dreifachen Hoch auf die

Sozialdemokratie schloss Prehn die Versammlung. Gez. Baer, Polizeikommissar.

Am 29. Juli durchlebte Weimar ein kleine Schrecksekunde. Die Weimarische

Zeitung brachte an diesem Tag den Knüller, dass der Kaiser acht deutsche

Armeekorps mobilisiert habe. Darauf entstand vor der Redaktion ein Massenauflauf

in der Geleitstraße. Doch es war eine Falschmeldung. Darauf schlugen patriotische

junge Leute vom „Jungdeutschlandbund“ ihre Zelte vor der Redaktion auf, wachten

Tag und Nacht damit keine Nachricht verloren ging. Der Gemeindevorstand ließ die

Geleitstraße für acht Tage sperren, um das „Zeltlager“ zu schützen.

Am 29. Juli kehrten erst Tage zuvor auf Übung ausgezogene Truppenteile in ihre

Garnisonen wieder zurück. Das Weimarer Bataillon (vom Infanterie-Regiment Nr.

94) zog früh 9 Uhr vom Übungsplatz Ohrdruf in die heimatliche Garnison ein. Vom

Truppenübungsplatz Munster (Lüneburger Heide) war das Feldartillerieregiment Nr.

24 von der Schießübung zurückberufen worden, noch in der Nacht kamen die „braun

gebrannten“ Soldaten in Güstrow an. Niemand konnte wohl hinter diesen plötzlichen

und völlig unerwarteten Rückrufen durch die Generäle der Armeekorps die große

Ernsthaftigkeit der Situation verkennen.

In Rostock titelte am 29. Juli, die dortige „Rostocker Zeitung“: Die Gefahr eines

Weltkriegs. Eine Antikriegsveranstaltung der Sozialdemokratie am Abend verlief

ohne nennenswerte Vorkommnisse, so der Polizeibericht. Am 30. Juli hieß die

Schlagzeile auf Seite 1: „In der zwölften Stunde“. Die Teilmobilmachung Russlands

rückte den Krieg gefährlich nahe. Am Freitag, den 31. Juli 1914, titelte die Rostocker

Zeitung: „Auf des Messers Schneide“. Der kulturelle Höhepunkt der ersten

Augustwoche, der Ostsee-Flug in Warnemünde, war abgesagt worden und die zur

Flugschau beitragenden fünf U-Boote sowie der Kreuzer „Hamburg“ dampften nach

Kiel ab. Die mecklenburgischen Eisenbahnbrücken über Elbe, Nebel und Warnow

wurden schon vom Militär bewacht.

Am 31. Juli fiel am Nachmittag in Berlin die erste schwerwiegende politische

Entscheidung für den Krieg, nach Redaktionsschluss der meisten Tageszeitungen.

Kaiser Wilhelm II. rief 12 Uhr mittags den „drohenden Kriegszustand“ über

Deutschland aus, außer über Bayern, was dann dort Stunden später der König von

Bayern tat. Durch diese politische Maßnahme ging vollziehende Staatsgewalt auf die

kommandierenden Generäle der Armeekorps über und das Kaiserreich war in

Alarmbereitschaft und in den Ausnahmezustand versetzt worden. Sofort ging die

ausführende Gewalt der staatlichen Verwaltungen, von Oberpräsidenten, Landräten,

Amtsleuten, Bürgermeistern usw., auf das Militär über. Sofort unterlagen die Medien

der absoluten Militärzensur. Im Regierungsbezirk Trier der preußischen

Rheinprovinz wurde der zivile Verkehr, Bahn-, Straßen- und Schiffsverkehr, nach

Luxemburg und Belgien mit diesem Tag adrupt unterbrochen. Die Post beförderte

keine Briefe und Pakete mehr von Trier in die benachbarten Kreise St. Wendel,

Ottweiler, Saarbrücken Stadt und Land, Saarlouis, Merzig und Saarburg und nach

Elsaß-Lothringen. Ausländern, insbesondere Franzosen und Russen, war bei schon

geschlossenen Grenzen das Schicksal beschieden, in deutsche Zivilgefangenschaft zu

geraten. In Trier und Saarbrücken urteilten nach dem 31. Juli an den Sitzen der

Landgerichte Kriegsgerichte über Verrat, Hochverrat, Spionage und über unerlaubtes

Kuchenbacken in einigen Haushalten. „Lieb Vaterland magst ruhig sein!“

Die Meldung vom Kriegszustand wurde von Berlin aus nach allen Orten im

Kaiserreich telegrafiert und überall ausgeklingelt oder durch Anschlag an den

Rathäusern, Postämter, Litfaßsäulen usw. bekannt gemacht. Und der Kaiser redete

um 16.30 Uhr vom Balkon des Berliner Schlosses an die Berliner und an die

Deutschen, begleitet vom Jubel der Menge.

Nach 16 Uhr ging die eilige „elektrische Drahtmeldung“ auch auf dem Kaiserlichen

Postamt in Rostock ein. Unter Trommelwirbel ließ gegen 18 Uhr ein Offizier in

Begleitung von 10 Soldaten die bedeutende Meldung für die Bürger ausrufen. Eine

große Menschenmenge begleitete den Offizier, der die Bekanntmachung des

kommandierenden Generals des 9. Armeekorps, von Generaloberst von Quast aus

Altona, verlas. (Das 9. Armeekorps, zu dem Mecklenburg und Rostock gehörten,

hatte seinen Sitz in Altona und Anfang August 1914 übernahm General von Boehn

(Roehl) das Kommando). Auf dem Blücherplatz kam es zu spontanen patriotischen

Kundgebungen und später ereigneten sich solche Szenen auch in den Gaststätten:

Das ist der Krieg? Ja, seit 1870/71 war Rostock so einer Situation nicht mehr

ausgesetzt und nur noch die ältesten Bewohner konnten sich an Kriegsrecht und

Kriegszustand erinnern. Die ungeheure Anspannung, die seit einigen Tagen Rostock

im Bann hielt, war gebrochen.

Doch das war noch nicht der Krieg, es war „drohende Kriegszustand“ und der

verlangte die sofortige Grenzsicherung im Westen und Osten, den Schutz der

Eisenbahnen und anderer wichtiger Verkehrswege für den Aufmarsch und eine

absolute Nachrichtensperre über militärische Tatbestände. Grenzsicherung hieß

sofortige Schließung der Grenzen, insbesondere nach Frankreich und Russland, aber

auch zur Schweiz, und damit wurden die noch in Deutschland durch Arbeit oder

Urlaub weilenden Ausländer der „verfeindeten“ Länder festgesetzt. Das Kaiserreich

im Kriegszustand veranlasste sofort ein Ausfuhrverbot von deutschem Getreide und

der Warenimport aus Feindesland setzte sofort aus. Im Rostocker Hafen mussten

noch am späten Abend des 31. Juli zwei mit Getreide beladene dänische Dampfer die

Ladung wieder löschen und zum letzten Mal für eine sehr lange Zeit waren hier zwei

Dampfer mit englischen Steinkohlen eingetroffen.

In Hamburg fiel die für den 31. Juli angesetzte Ausfahrt des „Imperator“ der

Hamburg-Amerika-Linie aus und der sich auf Reise befindende „Vaterland“ sollte

erstmal in New York bleiben. Die Kapitäne der Deutsch-Ostafrika-Linie wurden

angewiesen mit ihren Dampfern neutrale Häfen anzulaufen.

Auch in Jena waren an diesem warmen Juli-Nachmittag und Abend die Straßen und

Plätze, wie in den vorherigen Tagen, erneut von Passanten überfüllt. Überall standen

die Leute, die Männer Pfeife und Zigarre rauchend und heftig diskutierend über die

Ausrufung des Kriegszustandes. War das der Krieg, fragte man sich immer wieder?

Man erwartete die letzte Entscheidung, ob Krieg oder nicht Krieg, auf die

Mobilmachung. Noch am Abend verbreitete sich mit windesschnelle das Gerücht

vom Abzug der Garnison aus der Stadt. Mit Tränen in den Augen liefen Ehefrauen,

Mütter, Verlobte und Verliebte der Soldaten zur Kaserne, wo der Soldat im

Schilderhaus Halt gebot. Wie es sich aber schnell aufklärte, war es eben nur ein

Gerücht. Bis in die späte Nacht hinein klangen die „Wacht am Rhein“ und das

Schutz- und Trutzlied: „Deutschland, Deutschland über alles“ aus den weit

geöffneten Kasernenfenstern in die laue Sommernacht.

Etwas vorschnell liefen die Dinge in der Stadt Achern im Großherzogtum Baden ab.

Die dortige Zeitung, der Acher- und Bühler Bote, gab bereits am 31. Juli mit einem

Extrablatt die Mobilmachung bekannt, versehentlich, anstelle der Nachricht vom

„drohenden Kriegszustand“. An welcher Stelle der Nachrichtenübermittlung es hakte,

ist nicht bekannt. Tatsache war, dass also in Achern einen Tag früher die

Mobilmachung ausgerufen wurde. Also die Zeitung war schneller als des Kaisers

Mobilmachung-Verkündung (am nächsten Tag). Und so trieb es die Bürgerschaft mit

dem Extrablatt bereits am Freitag aus den Häusern, die aufgeregten Menschen

standen auf Straßen und Plätze beieinander und meinten, es ginge in den Krieg. Am

Abend füllten sich die Gasthäuser „Zum Ochsen“ oder „Zum Engel“ u. a. und

spontan liefen junge Männer auf die Straße und mit Hochrufen bejubelten sie den

Kaiser.

Und es gab ein weiteres Missgeschick an diesem Tage. Dem Rostocker Dampfer

„Julius Zelck“ passierte gerade jetzt im Kaiser-Wilhelm-Kanal das Unglück, schwer

auf Grund zu laufen und die freie Fahrt für die Militär- und Versorgungsschiffe zu

gefährden. Vier große Schleppdampfer versuchten vergebens das Schiff

abzuschleppen. Das Kanalamt schickte den Bagger „Holtenau“ nach der Unfallstelle,

um das Schiff frei auf Backbord zu baggern.






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